Die Abenteuer des Magnus Asinus
Erste Zeitreise
Kapitel 1: Das Experiment
Es war schon Abenddämmerung, als ein neugieriger junger Forscher in einem kleinen Labor endlich die Früchte von vielen Tagen harter Arbeit ernten wollte. Magnus Asinus war nicht aufzuhalten, wenn er sich erst in ein Thema verbissen hat. Und dieses Thema hier war außergewöhnlich. Er war dabei, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Magnus hatte sich intensiv mit der Theorie der Wurmzeit beschäftigt. Diese erweiterte Einsteins Relativitätstheorie und sollte Zeitreisen insofern ermöglichen, dass zumindest Informationen über sog. Wurmkanäle übertragen werden können. Die geometrischen Rahmenbedingungen für einen Wurmkanal waren nicht gerade trivial, und die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung Legende - mal davon abgesehen, dass kaum ein renommierter Wissenschaftler öffentlich zugeben wollte, dass diese Theorie möglicherweise eine Alternative zum V-Modell - präziser Vibrationsmodell, im Volksmund auch Violinenmodell - der herrschenden Lehrmeinung sein könnte. Magnus wollte experimentell nachweisen, dass das W-Modell die besseren Antworten liefert. Das Kernstück war ein konkaver Kristall, der in einem Konvexkompensator zentriert justiert werden musste. Schon die Beschaffung des Kristalls war ein eigenes Abenteuer - ähnlich wie die Suche nach magnetischen Monopolen. Doch an diesem Abend war es soweit - an Feierabend war nicht zu denken.
Aufgeregt, aber vorsichtig, nahm Magnus den Apparat in Betrieb. Ein leises Zirpen disharmonischer Schwingungen baute sich auf. Damit hatte er gerechnet. Er hatte es sogar ausgerechnet. Er hatte berechnet, wie er die Disharmonik kompensieren muss. Danach hatte er in seiner kleinen privaten Werkstatt den Konvexkompensator gebaut. Alleine dafür hätte er den Teufelspreis verdient - ein jährlich vergebener, in der Wissenschaft hochangesehener Preis, der nur an echte Teufelskerle verliehen wird. Mit seinem Wurmzeitsignalprojektor, dem WZSP, versuchte er, die Daten zu dechiffrieren und darzustellen. Das W-Modell konnte die Struktur des Wurmzeitsignalprotokolls, dem WZSP, gut erklären. Der Bau des Wurmzeitsignalprojektors war einfacher als der des Konvexkompensators. Aber über das Überladen von Abkürzungen sollte man nochmal meditieren, dachte sich Magnus.
Als er die disharmonichen Schwingungen unter das kritische Niveau gedämpft hatte, wurde ein scharfes Bild erkennbar. Das erste Bild aus der Zukunft. Es sah aus wie... da stand eine Menge Text, oben größere Buchstaben, ein einer Ecke war sogar ein Datum erkennbar.
Kapitel 2: Die Zeitung
Magnus Asinus hatte eine Zeitung vor sich - eine Zeitung aus der Zukunft. Er konnte lesen, was passieren wird. Er war ganz aufgeregt. Das war wie eine Glaskugel beim Wahrsager - nur besser. Laut Datum werden bis zum Erscheinen etwa zwei Wahlperioden vergehen. Das ist überschaubar nahe in der Zukunft. Magnus fing an, sorgfältig zu lesen. Es drehte sich tatsächlich um die in Kürze stattfindende Wahl. Der Artikel beschrieb die Ereignisse in Hempelshafen. Offensichtlich hatte bei der kommenden Wahl [Hinweis für den Leser: der Autor ist mit den grammatikalischen Feinheiten der Tempusbildungen bei Schilderungen im Zusammenhang mit Zeitreisen nicht vollständig vertraut; der Leser möge zur Korrektur ggf. auf das Handbuch von Dr. Dan Streetmaker zurückgreifen] die Demokratische Alternative Union DAU gewonnen und war regierend im Amt. Der Ausschuss für Redlichkeit wird die Kandidaten der Religiösdemokratischen Partei RDP und der Union für soziale Demokratie USD nicht zur Wahl zulassen. Als Begründung war jeweils ein Dossier im Auftrag des Ministeriums für Wahrheit genannt, das beim staatlichen Sicherheitsschutz Triple-S nach den Maßstäben der gründlichen Sicherheitsprüfung GSP angefertigt werden wird. Einer der Kandidaten soll öffentlich verkündet haben, die Gebrüder Grimm und speziell das Märchen Rapunzel gut zu finden. Hier wird angemahnt, dass das eine Metapher sei, eine Abkürzung zum Ziel statt der langen steinigen Wendeltreppe nehmen zu wollen, also ein verkappter staatsfeindlicher Putschversuch. Dem anderen Kandidaten wird vorgeworfen, dass bei einer seiner Reden Anhänger der Totalitär Christlichen Partei TCP zugehört haben sollen. So geht es nicht!
Magnus Asinus überprüfte den Versuchsaufbau, ob ein Fehler vorliegt und die Informationsübertragung aus der Zukunft vielleicht gestört und verzerrt ist. Aber er konnte keinen Fehler finden. Es war alles in Ordnung - bzw. nichts war in Ordnung. Ein mulmiges Entsetzen stieg in ihm auf. Trotzdem blieb er weiter neugierig. Magnus vertiefte sich wieder in die Lektüre. Die Kandidaten werden sich an ein Gericht wenden und der Lächerlichkeit der Angelegenheit Ausdruck verleihen. Mal abgesehen von der inhaltlichen Argumentation ist der Ausschuss für Redlichkeit ohnehin nicht zuständig für eine derartige Überprüfung und wird somit außerhalb seiner Kompetenzen operieren - quasi im rechtsfreien Raum. Doch dem Text war zu entnehmen, dass man mit dieser Argumentation die Rechnung ohne den Wirt der Gerichstkantine macht - oder so ähnlich. Das Gericht will vor der Wahl kein rechtsstaatliches Verfahren durchführen, um dadurch die Rechtmäßigkeit der Wahl zu gewährleisten. Erstmal passiert nix. Das war für Magnus ein bisher unbekannter Level auf der Skala der allgemeinen Unlust. Magnus brauchte dringend eine Tasse mit heißem Tee und gönnte sich eine kurze Pause. Dann änderte er einige Einstellungen, und er bekam weitere Meldungen aus der Zukunft zu sehen. Es waren zukünftige Reaktionen auf die Zukunft. Nicht wenige Meldungen drehten sich um das Ende der Demokratie und das Ende des Rechtsstaates. Die Kommentare zum Thema überschlugen sich ebenfalls - es war von russischen Verhältnissen die Rede. Insbesodere aus Stussstadt, wo eine kleine knappe Koalitiion (im Volksmund auch Triple-K genannt) aus RDP und USD regierte, kam erboste Kritik. Die Verfassung werde mit der Teufelskralle beharkt, so eine der harmloseren Formulierungen. In Hempelshafen werden inzwischen die Wahlzettel gedruckt werden. Wie der Propagandabeauftragte der lokalen Regierung mitteilen wird, steht mit der Liste aus Demokratische Alternative Union DAU, Partei für liberale Wirtschaft PLW, der Union für Umweltschutz UFU, der Union Demokatischer Patrioten UDP, der Internationalen Christlich-Muslimischen Partei ICMP und den Freibeutern eine hinreichende Auswahl für eine demokratische Bürgerentscheidung zur Verfügung. Die Kritik aus Stussstadt, dass es die meisten der Oppositionsparteien selbst in Summe zusammen nicht über die 5%-Hürde schaffen, wird mit Respektlosigkeit vor dem Wählerwillen kommentiert.
Magnus ist inzwischen völlig fassungslos. Bleich im Gesicht stellt er die Instrumente neu ein und versucht, Signale aus einer Zukunft nach der Wahl zu empfangen. Wie geht die Wahl aus? Wie wird das Gericht nach der Wahl entscheiden? Dabei überhitzt der konkave Kristall und zerspringt. Mist, denkt sich Magnus, ausgerechnet jetzt. Es wird eine Weile dauern, bis er einen neuen beschaffen kann, geht es ihm im Kopf herum. Dann wird ihm schlecht, so richtig speiübel. Er braucht frische Luft und rennt zum Fenster.
Kapitel 3: Der Schrei
Magnus reißt das Fenster im Labor auf. Er kann es kaum erwarten, frische Luft zu atmen. in seiner Eile lehnt er sich aus dem Fenster. Wie sich herausstellt, zu weit. Er verliert den Halt. Im freien Fall fängt er an zu denken. Schwerpunkt, Stabilität, einfache Schulphysik. Dann sieht er seine Todesanzeige vor Augen, abgedruckt in einer Zeitung. Ist das eine Nachwirkung des Experiments? Er liest noch etwas von Fenster und russischen Verhältnissen. Hinter der Schrift sieht er den Boden in einer irrwitzigen Geschwindigkeit auf sich zurasen. Unwillkürlich fängt er an, einen lauten Schrei auszustoßen. NEEIIIIN.... Plötzlich ist es dunkel um ihn herum. Magnus ist schweißgebadet aufgewacht, aufgeweckt von seinem eigenen Schrei. Er realisiert, dass sein Puls rast, aber langsamer wird. Doch endgültig überzeugt ist er noch nicht. War das wirklich nur ein Albtraum?